Kristin Winter ist am Bodensee keine Unbekannte. Ihre Gedichte sprechen von Begegnungen. Begegnungen mit Menschen, mit sich selbst, mit der Natur. Mit ihrer kraftvollen, aber dennoch einfühlsamen und bildreichen Sprache zeichnet sie die vielfältigen Konturen der inneren und äußeren Welten, die sich in einer Begegnung auftun können, nach. Sie folgt auch der Liebe, transzendiert diese aber nicht, sondern lässt sie dort, wo sie hingehört: auf die Erde und ins Leben.
Sie ist eine Autorin, die nicht belehrt und analysiert, sondern beschreibt; eine, die dem Leben nachspürt, leise aber unüberhörbar.
Prof. Dr. Reinhard Schmitz-Scherzer 2003
Sie ist eine Autorin, die nicht belehrt und analysiert, sondern beschreibt; eine, die dem Leben nachspürt, leise aber unüberhörbar.
Prof. Dr. Reinhard Schmitz-Scherzer 2003
grosser vogel zärtlichkeit
von weit her kommst du
grosser vogel zärtlichkeit
kaum mehr kenne ich
dein land
jasminblüte und oleanderduft
behutsam senkst du dich
auf meinen sand
deine schwingen streichen sanft
über meine dünen
fandest du noch einen hauch grün
in meiner oase
unter dem schatten deiner flügel
keimt leise
der erste halm
von weit her kommst du
grosser vogel zärtlichkeit
kaum mehr kenne ich
dein land
jasminblüte und oleanderduft
behutsam senkst du dich
auf meinen sand
deine schwingen streichen sanft
über meine dünen
fandest du noch einen hauch grün
in meiner oase
unter dem schatten deiner flügel
keimt leise
der erste halm
wie wach du mich machst
wie wach du mich machst
nicht könnt´ich schlafen jetzt
hier neben dir
so wach für mich für dich
für diese welt
für jene ferne auch die hinter
allen dingen liegt
wie wach du mich machst
die ganze haut nimmt wahr
und trinkt sich satt
sie hört und fühlt und riecht
mit jedem sinn
der schlaf zieht wartend seine kreise
an der zimmerwand
wie wach du mich machst
dein wesen buchstabiere ich
auf deinem leib
ich lote deinen grund
auf´s neue aus
begrüße still mit leisem glück
das erste morgenlicht
wie wach du mich machst
wie wach du mich machst
nicht könnt´ich schlafen jetzt
hier neben dir
so wach für mich für dich
für diese welt
für jene ferne auch die hinter
allen dingen liegt
wie wach du mich machst
die ganze haut nimmt wahr
und trinkt sich satt
sie hört und fühlt und riecht
mit jedem sinn
der schlaf zieht wartend seine kreise
an der zimmerwand
wie wach du mich machst
dein wesen buchstabiere ich
auf deinem leib
ich lote deinen grund
auf´s neue aus
begrüße still mit leisem glück
das erste morgenlicht
wie wach du mich machst
unser lied
wir haben unser lied
heute nacht
gemeinsam gesungen
der wind ist verstummt
ihm zu lauschen
der mond ist erblasst vor neid
und die sterne tanzten
einen takt schneller
wir haben unser
schönstes lied
heute nacht
gemeinsam gesungen
wir haben unser lied
heute nacht
gemeinsam gesungen
der wind ist verstummt
ihm zu lauschen
der mond ist erblasst vor neid
und die sterne tanzten
einen takt schneller
wir haben unser
schönstes lied
heute nacht
gemeinsam gesungen
In ihren Gedichten zeichnet Kristin Winter das Erfahrungsfeld einer Wegsuchenden, einer Wegfindenden und Vertrauenden. Sie spannt ein Netz zwischen dem Begreifen, ja Ergreifen der eigenen Identität und ihrer Gelassenheit in die Welt. Ruhe und Geborgenheit findet sie vor allem im Annehmen der eigenen Vergangenheit - "in allem wandel dem die treue halten das dich zeichnete". Voll Energie, die mal leise, mal kraftvoll sich durch sensibel entworfene Bilder Bahn bricht, laden ihre Gedichte ein zur Einkehr, zum Durchatmen und Besinnen auf sich selbst.
Athena-Verlag 2004
2004 Lyrik
Athena-Verlag / Oberhausen
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-183-4)
auch über mich zu erhalten
auch über mich zu erhalten
herbst
ich habe
ein kind gesehen
kastanien sammelnd
und blätter zu buntem
strauß
die sonnenwärme riecht
müde
und nach feuchtem laub
igelgleich
rollt sich ein mein
sommertanz
ahnt schneewind
*
alter mann
seine gedanken
fischen
in frühen meeren
der blick im irgendwo
die kufen seines
schaukelstuhles
messen die zeit
ich habe
ein kind gesehen
kastanien sammelnd
und blätter zu buntem
strauß
die sonnenwärme riecht
müde
und nach feuchtem laub
igelgleich
rollt sich ein mein
sommertanz
ahnt schneewind
*
alter mann
seine gedanken
fischen
in frühen meeren
der blick im irgendwo
die kufen seines
schaukelstuhles
messen die zeit
am anfang
nicht am anfang
war das wort
am anfang war
die stille
damit das wort
zu hören sei
küsse deine
stillen stunden
*
muschelworte
heraustreten aus mir
neben mich stellen
beugen
mein ohr neigen
auf meine andere brust
und den muschelworten
lauschen
nicht am anfang
war das wort
am anfang war
die stille
damit das wort
zu hören sei
küsse deine
stillen stunden
*
muschelworte
heraustreten aus mir
neben mich stellen
beugen
mein ohr neigen
auf meine andere brust
und den muschelworten
lauschen
gegeben
zusammengekauert
an der hauswand
der bettler
sein hut und der
zettel daneben
die augen niedergeschlagen
vorbeihastende füße
stehen bleiben
nicht von oben der
münzwurf nein
sich beugen
die hand bis zum
hutrand
und plötzlich
sein blick
*
manchmal
manchmal am tag
erkennen die geste
mit der sich eine blüte
öffnet
die sehnsucht der welt
begriffen zu werden
zusammengekauert
an der hauswand
der bettler
sein hut und der
zettel daneben
die augen niedergeschlagen
vorbeihastende füße
stehen bleiben
nicht von oben der
münzwurf nein
sich beugen
die hand bis zum
hutrand
und plötzlich
sein blick
*
manchmal
manchmal am tag
erkennen die geste
mit der sich eine blüte
öffnet
die sehnsucht der welt
begriffen zu werden
"weil die sonne mich liebt ... kann ich hoffnung atmen ... und liebesworte schreiben"
Liebesworte - das sind die Gedichte von Kristin Winter: Liebe zum Leben, zur Natur, zum Du, vor allem aber zum Ich. Letzteres hat nichts mit Narzissmus oder übermäßigem Rückzug nach innen zu tun, vielmehr spürt man, dass hier ein Mensch schreibt, der in sich ruht, aus dieser Ruhe Kraft schöpft und diese nach außen weiter gibt. In zärtlicher, weicher, bildreicher Sprache erzählt sie von der Kraft und Macht, die in jedem steckt, negatives Erleben zu positiver Erfahrung zu wandeln, nicht daran zu zerbrechen, sondern zu erstarken. Es geht ihr darum, alles zu nehmen wie es ist, sich selbst dabei nicht zu verleugnen, und somit in einen lebendigen Dialog mit der Umwelt zu treten. Wie ein Frühlingswind vertreiben die "fisch-lieder" dunkle Gedanken - die durchaus als zum Leben zugehörig angesprochen werden - und erinnern daran, die Augen nicht vor den Wundern im Kleinen und Alltäglichen zu verschließen
Liebesworte - das sind die Gedichte von Kristin Winter: Liebe zum Leben, zur Natur, zum Du, vor allem aber zum Ich. Letzteres hat nichts mit Narzissmus oder übermäßigem Rückzug nach innen zu tun, vielmehr spürt man, dass hier ein Mensch schreibt, der in sich ruht, aus dieser Ruhe Kraft schöpft und diese nach außen weiter gibt. In zärtlicher, weicher, bildreicher Sprache erzählt sie von der Kraft und Macht, die in jedem steckt, negatives Erleben zu positiver Erfahrung zu wandeln, nicht daran zu zerbrechen, sondern zu erstarken. Es geht ihr darum, alles zu nehmen wie es ist, sich selbst dabei nicht zu verleugnen, und somit in einen lebendigen Dialog mit der Umwelt zu treten. Wie ein Frühlingswind vertreiben die "fisch-lieder" dunkle Gedanken - die durchaus als zum Leben zugehörig angesprochen werden - und erinnern daran, die Augen nicht vor den Wundern im Kleinen und Alltäglichen zu verschließen
Athena-Verlag 2005
2005 Lyrik
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-224-5)
auch über mich zu erhalten
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-224-5)
auch über mich zu erhalten
geschützt
das fenster weit offen
es strömt eine menge
morgen herein
der leise flügelschlag
deines atems
neben mir
für heute
habe ich in
drachenblut gebadet
*
morgens
am morgen
der innenraum meiner
kuppel
mit gold ausgekleidet
ich lache
der tag
ich lache
*
mondlüge
du lügst mond
mit deinem lied vom
gleichmaß
der dinge
ich glaube dir nicht
kenne es
anders
das fenster weit offen
es strömt eine menge
morgen herein
der leise flügelschlag
deines atems
neben mir
für heute
habe ich in
drachenblut gebadet
*
morgens
am morgen
der innenraum meiner
kuppel
mit gold ausgekleidet
ich lache
der tag
ich lache
*
mondlüge
du lügst mond
mit deinem lied vom
gleichmaß
der dinge
ich glaube dir nicht
kenne es
anders
abend am see
auf der
lichtbrücke
durchs rote tor
schreiten
wie oft im
leben
der versuch
übers wasser zu gehen
der abendwind
treibt seine wellenlieder
vorsichtig
ins schilf
*
manchmal
die alten
kinderlieder
manchmal
stecken sie dir
einen zipfel
unendlichkeit zu
verstohlen und gierig
greifst du danach
lächelst über deine
einfalt
auf der
lichtbrücke
durchs rote tor
schreiten
wie oft im
leben
der versuch
übers wasser zu gehen
der abendwind
treibt seine wellenlieder
vorsichtig
ins schilf
*
manchmal
die alten
kinderlieder
manchmal
stecken sie dir
einen zipfel
unendlichkeit zu
verstohlen und gierig
greifst du danach
lächelst über deine
einfalt
der kuss
an manchen tagen
vergisst
die sonne
dir
aufzugehen
eine finsternis
die getröstet
sein will
du umarmst sie
dein versöhnlicher
kuss
weckt den tag
der gott
in dir
*
fischlieder
mein land hat sich
in der dämmerung
aufgelöst
ist fortgeschwommen
da habe ich die
fischlieder
gehört
sie waren grün
an manchen tagen
vergisst
die sonne
dir
aufzugehen
eine finsternis
die getröstet
sein will
du umarmst sie
dein versöhnlicher
kuss
weckt den tag
der gott
in dir
*
fischlieder
mein land hat sich
in der dämmerung
aufgelöst
ist fortgeschwommen
da habe ich die
fischlieder
gehört
sie waren grün
Kristin Winters Gedichte sind Momentaufnahmen. Ob das nun Kindheitserinnerungen sind, ein Frühlingstag oder ein gemeinsames Erwachen - immer gelingt
es der Autorin mit ihrer sinnlichen, sanften und doch so kraftvollen Sprache diesen Augenblicken eine intensive Atmosphäre zu geben. Oft schlägt sie in ihren Gedichten den Bogen zwischen dem Außen und dem Innen - die Natursicht wird dabei zur Metapher für die Innenschau. Ernsthaftigkeit, gepaart mit feinem Humor, eine gewisse Leichtigkeit, die nicht der Tiefe entbehrt, verknüpft durch diese wunderbare lustvolle Sprache versprechen höchsten Lesegenuss.
es der Autorin mit ihrer sinnlichen, sanften und doch so kraftvollen Sprache diesen Augenblicken eine intensive Atmosphäre zu geben. Oft schlägt sie in ihren Gedichten den Bogen zwischen dem Außen und dem Innen - die Natursicht wird dabei zur Metapher für die Innenschau. Ernsthaftigkeit, gepaart mit feinem Humor, eine gewisse Leichtigkeit, die nicht der Tiefe entbehrt, verknüpft durch diese wunderbare lustvolle Sprache versprechen höchsten Lesegenuss.
Athena-Verlag 2007
2007 Lyrik
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-289-6)
auch über mich zu erhalten
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-289-6)
auch über mich zu erhalten
allgäu-sommer
träge fließt die zeit
über die hügel
lehnt sich an silbergraue
holzschober
vor dem tannensaum
ragt blitzgesplittert
der eichenstamm
verwitterung und verfall
wird schönheit
das grün ist grün
ist grün und manchmal
fast
zu satt
in diesen flüssigen stunden
*
dezemberfrühe
gefrorene stille
kristallisiert auf den zäunen
noch hängt der wintermond
gefangen im geäst
die bäume schlafen nackt
gegen das frühe blau
wir träumen in nachtkühler ruhe
von der geburt
eines schuldlosen tages
träge fließt die zeit
über die hügel
lehnt sich an silbergraue
holzschober
vor dem tannensaum
ragt blitzgesplittert
der eichenstamm
verwitterung und verfall
wird schönheit
das grün ist grün
ist grün und manchmal
fast
zu satt
in diesen flüssigen stunden
*
dezemberfrühe
gefrorene stille
kristallisiert auf den zäunen
noch hängt der wintermond
gefangen im geäst
die bäume schlafen nackt
gegen das frühe blau
wir träumen in nachtkühler ruhe
von der geburt
eines schuldlosen tages
nachtlied
mit leiser feder
schrieb ich dir ein
bambuslied
zur nacht
auf wolkenränder
mondbestäubt
es verfing sich im
mandelbaum
bitterduft
am morgen
*
zur nacht
wenn in manchen zeiten
sich das dunkel leise
in den abend siebt
dann nehme ich die töne
muttergesungen
aus den alten kinderliedern
flicke damit
die ausgefransten tage
und decke mich
zur nacht
mit leiser feder
schrieb ich dir ein
bambuslied
zur nacht
auf wolkenränder
mondbestäubt
es verfing sich im
mandelbaum
bitterduft
am morgen
*
zur nacht
wenn in manchen zeiten
sich das dunkel leise
in den abend siebt
dann nehme ich die töne
muttergesungen
aus den alten kinderliedern
flicke damit
die ausgefransten tage
und decke mich
zur nacht
wandelworte
so sehr wir auch
lauschen
die sterne schweigen uns
wir suchen neu
die wandelworte
bewegliche begriffe
uns selber wandelnd
und beten
unseren täglichen tod
gib uns heute
*
die stunde
es kommt die stunde
in der wir unseren schatten
verlieren
da wird
ein geflügelter sein
der es sieht und der
sich freut
und achtet
dass wir nicht scheitern
am grund der stunden
so sehr wir auch
lauschen
die sterne schweigen uns
wir suchen neu
die wandelworte
bewegliche begriffe
uns selber wandelnd
und beten
unseren täglichen tod
gib uns heute
*
die stunde
es kommt die stunde
in der wir unseren schatten
verlieren
da wird
ein geflügelter sein
der es sieht und der
sich freut
und achtet
dass wir nicht scheitern
am grund der stunden
Kristin Winters Kurzprosa handelt von der Sprachlosigkeit zwischen den Menschen, von den Momenten der Einsamkeit und Verlorenheit, trotz vordergründiger Nähe und Vertrautheit. Aber ihre Figuren möchten keine „Goldfische“ sein, die stumm ihre Kreise ziehen. Sie treffen Entscheidungen, mitunter gegen die Wünsche der Mitmenschen. Die Geschichten sind mit feinen Fäden kunstvoll verwoben, denn die Lebenswege der Protagonisten kreuzen sich auf unterschiedlichste Weise. So kann der Leser teilhaben am Leben ganz verschiedener Menschen - junger und älterer, starker und scheinbar schwächerer, sich verliebender und sich trennender. Dabei beobachtet die Autorin sehr genau und lässt oft in den kleinen Dingen, den leisen Gesten die tiefer liegenden Gefühle und Wahrheiten erkennen. Sie regt dazu an, auch dem kaum Wahrnehmbaren nachzuspüren.
Athena-Verlag 2007
2007 Kurzprosa
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-304-6)
auch über mich zu erhalten
Athena-Verlag / Oberhausen
(ISBN 3-89896-304-6)
auch über mich zu erhalten
Nasenbluten
Mit einem trockenen Splittern fährt die Klinge des Beils in das Holz, keilt sich fest. Noch einmal holt Hanna aus, Beil und Holz krachen auf den Hackstotz, ein Scheit löst sich vom größeren Teil. Drei Scheite bringt sie aus einem halben Rugel. Martin halbiert mit seiner langen Axt die gesägten Stammstücke, Hanna spaltet diese mit dem Beil in die kleineren Brennscheite. Jetzt nimmt Hanna den größeren der beiden Scheite und teilt ihn noch einmal, wie gesagt, drei Scheite bringt sie aus dem halben Rugel. Die Scheite wirft sie neben sich in den dunklen Weidenkorb, wenn der Korb voll ist, trägt Martin ihn zur Hauswand, stapelt das Holz unter dem Vordach auf.
Hanna greift nach dem nächsten Holzstück, hält es mit der linken Hand senkrecht, lässt aus kurzem Abstand das Beil sich krachend festkeilen, holt beim zweiten Schlag weiter aus. Beim Aufprall auf den Hauklotz springt das kleinere Stück in die Höhe, sie spürt den harten Schlag ins Gesicht, lässt das Beil fallen, greift sich an die Nase, warm läuft das Blut über die Oberlippe. Sie wischt mit beiden Handrücken, sucht dann in der Jackentasche nach einem Taschentuch, findet keines.
Martin steht auf einmal neben ihr; beug‘ den Kopf zurück, sagt er, hier nimm, sagt er und reicht ihr sein Tuch. Nach einer Weile hört das Bluten auf. Martin fährt mit seinem Zeigefinger über Hannas Oberlippe, wischt einen Rest Blut fort.
Die Mutter, denkt Hanna, wie die Mutter, diese raue, aufgesprungene Kuppe des Fingers. Im großen Kessel erhitzte sie die Wäsche auf dem Holzherd, schrubbte sie auf dem Waschbrett in der ovalen Zinkwanne, und die ausgelaugten Hände waren rau und rissig.
Wenn die Kinder in der kalten Jahreszeit zum Spielen hinausgingen, rief die Mutter sie an der Türe zurück, rieb ihnen das Gesicht ein. Als Schutz gegen die Kälte, sagte sie, während ihre rauen Finger über die feine weiche Kinderhaut fuhren. Als Kind hatte Hanna, weil es so kratzte, den Kopf immer ein wenig zurück-gezogen, den Rest der Creme selbst verstrichen. Und doch war es genau dieses raue Reiben auf der Oberlippe, welches ihr das Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte.
Und jetzt spürt sie die schwielige Fingerkuppe von Martin auf ihrer Lippe. Der Rücken schmerzt mit einem Mal nicht mehr, nicht mehr die Nase, sie spürt nur dieses Kinderglücksgefühl warm und zärtlich in sich, dieses Versorgtsein, Geborgensein.
Noch einmal, sagt sie, fahr‘ noch einmal mit deinem Finger über meine Oberlippe, und sie schließt die Augen.
Da ist kein Blut mehr, sagt Martin und geht zu seiner Axt zurück.
Mit einem trockenen Splittern fährt die Klinge des Beils in das Holz, keilt sich fest. Noch einmal holt Hanna aus, Beil und Holz krachen auf den Hackstotz, ein Scheit löst sich vom größeren Teil. Drei Scheite bringt sie aus einem halben Rugel. Martin halbiert mit seiner langen Axt die gesägten Stammstücke, Hanna spaltet diese mit dem Beil in die kleineren Brennscheite. Jetzt nimmt Hanna den größeren der beiden Scheite und teilt ihn noch einmal, wie gesagt, drei Scheite bringt sie aus dem halben Rugel. Die Scheite wirft sie neben sich in den dunklen Weidenkorb, wenn der Korb voll ist, trägt Martin ihn zur Hauswand, stapelt das Holz unter dem Vordach auf.
Hanna greift nach dem nächsten Holzstück, hält es mit der linken Hand senkrecht, lässt aus kurzem Abstand das Beil sich krachend festkeilen, holt beim zweiten Schlag weiter aus. Beim Aufprall auf den Hauklotz springt das kleinere Stück in die Höhe, sie spürt den harten Schlag ins Gesicht, lässt das Beil fallen, greift sich an die Nase, warm läuft das Blut über die Oberlippe. Sie wischt mit beiden Handrücken, sucht dann in der Jackentasche nach einem Taschentuch, findet keines.
Martin steht auf einmal neben ihr; beug‘ den Kopf zurück, sagt er, hier nimm, sagt er und reicht ihr sein Tuch. Nach einer Weile hört das Bluten auf. Martin fährt mit seinem Zeigefinger über Hannas Oberlippe, wischt einen Rest Blut fort.
Die Mutter, denkt Hanna, wie die Mutter, diese raue, aufgesprungene Kuppe des Fingers. Im großen Kessel erhitzte sie die Wäsche auf dem Holzherd, schrubbte sie auf dem Waschbrett in der ovalen Zinkwanne, und die ausgelaugten Hände waren rau und rissig.
Wenn die Kinder in der kalten Jahreszeit zum Spielen hinausgingen, rief die Mutter sie an der Türe zurück, rieb ihnen das Gesicht ein. Als Schutz gegen die Kälte, sagte sie, während ihre rauen Finger über die feine weiche Kinderhaut fuhren. Als Kind hatte Hanna, weil es so kratzte, den Kopf immer ein wenig zurück-gezogen, den Rest der Creme selbst verstrichen. Und doch war es genau dieses raue Reiben auf der Oberlippe, welches ihr das Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte.
Und jetzt spürt sie die schwielige Fingerkuppe von Martin auf ihrer Lippe. Der Rücken schmerzt mit einem Mal nicht mehr, nicht mehr die Nase, sie spürt nur dieses Kinderglücksgefühl warm und zärtlich in sich, dieses Versorgtsein, Geborgensein.
Noch einmal, sagt sie, fahr‘ noch einmal mit deinem Finger über meine Oberlippe, und sie schließt die Augen.
Da ist kein Blut mehr, sagt Martin und geht zu seiner Axt zurück.
Mirja lebt in Namibia. Sie ist 17 Jahre alt, als sie begreift, dass sowohl sie als auch ihre Mutter und Geschwister in Gefahr sind. Schon mehrmals sind sie in Lebensgefahr geraten, und nun steht eine Entscheidung an. Mirja übt schießen...
Während der letzten Tage in ihrem Zuhause in Windhoek - und ebenso später während der langen Flucht - erinnert Mirja sich immer wieder an die Kindheit in Deutschland. Der Fluchtweg von Namibia über Südafrika und Rhodesien (heute Simbabwe) birgt bis zuletzt stets neue dramatische Situationen.
Der Leser nimmt Teil an dem Geschehen durch die tagebuchartigen Erlebnisse und Reflektionen der Siebzehnjährigen. Er wird Zeuge, wie es Mirja gelingt, mit dieser Lebensdramatik umzugehen.
Während der letzten Tage in ihrem Zuhause in Windhoek - und ebenso später während der langen Flucht - erinnert Mirja sich immer wieder an die Kindheit in Deutschland. Der Fluchtweg von Namibia über Südafrika und Rhodesien (heute Simbabwe) birgt bis zuletzt stets neue dramatische Situationen.
Der Leser nimmt Teil an dem Geschehen durch die tagebuchartigen Erlebnisse und Reflektionen der Siebzehnjährigen. Er wird Zeuge, wie es Mirja gelingt, mit dieser Lebensdramatik umzugehen.
2007 Erzählung
BoD / Norderstedt
(ISBN 3-8334-9856-5)
auch über mich zu erhalten
BoD / Norderstedt
(ISBN 3-8334-9856-5)
auch über mich zu erhalten
Kapitel 1
Jetzt bin ich siebzehn und übe seit ein paar Tagen schießen, um im Notfall den Vater erschießen zu kön-nen. Ich habe dafür noch fünf Tage Zeit.
Langsam hebe ich erneut das Tesching und kneife das rechte Auge zu. Das Tesching ist durch seine Leichtigkeit einfacher zum Üben als der Jagdkarabiner, der neben mir an der Wand lehnt. Mit ihm werde ich später schießen, wenn ich sicherer bin.
Ich spüre den heißen Sand unter den Füßen, die Luft flirrt, es ist Anfang Dezember, die heißeste Zeit in Namibia. Um sicheren Stand zu haben, stelle ich den linken Fuß vor, verlagere das Gewicht auf das rechte Standbein, ziele und drücke ab. Auf dem äußersten der Kreise ist der Einschuss zu sehen. Ich werde noch ziemlich üben müssen...
Ich bin die Älteste. Die Älteste von fünf Geschwistern zu sein heißt immer, zwischen den Stühlen zu sitzen. Zwischen den Stühlen der Eltern und denen der Geschwister. Vier Schwestern sind wir und ein Bruder; Börries, genannt Bolte ist der zweite in der Reihe. Allerdings haben die Geschehnisse der letzten Jahre uns Geschwister mehr und mehr zu einer Einheit zusammengeschweißt. Wenn es ums Überleben geht, herrschen eigene Gesetze, und in einem Land wie Afrika geht es eigentlich fast immer ums Überleben. Dazu kommt unsere ganz spezielle Situation, die mit unserem Vater.
Seit acht Jahren leben wir in Afrika; ich war zehn, als meine Eltern mit uns auswanderten, die jüngste Schwester Karin war gerade ein halbes Jahr alt. Die Erinnerungen an Deutschland verblassen inzwischen langsam, am lebendigsten werden sie an Weihnachten, denn das feiern wir meist an der Küste im Wohnwagen. Dort sitzen wir um den kleinen Tisch und die Kerzen biegen sich in der Hitze - das ist der einzige Moment unterm Jahr, in dem ich Heimweh empfinde: Heimweh nach Schnee und Tannengrün an Weihnachten, nach dieser so anderen stillen Festlichkeit.
Und jetzt stehe ich hier und ziele auf diese runde Scheibe, ziele und schieße. Und ich weiß: entweder der Vater oder wir. Etwas in mir funktioniert ruhig und nüchtern, emotionslos. Das Gefühl der Verantwortung für die Mutter und die Geschwister, das ich schon lange kenne, lässt mich handeln.
Nach einer weiteren zähen halben Stunde lege ich das Tesching aus der Hand, der Schweiß rinnt mir über die Stirn, am Leib und unter den Achseln; ich setze mich auf den Sandboden und lehne den Rücken an die Hausmauer. Sie ist angenehm kühl. Ich schließe die Augen.
...
Jetzt bin ich siebzehn und übe seit ein paar Tagen schießen, um im Notfall den Vater erschießen zu kön-nen. Ich habe dafür noch fünf Tage Zeit.
Langsam hebe ich erneut das Tesching und kneife das rechte Auge zu. Das Tesching ist durch seine Leichtigkeit einfacher zum Üben als der Jagdkarabiner, der neben mir an der Wand lehnt. Mit ihm werde ich später schießen, wenn ich sicherer bin.
Ich spüre den heißen Sand unter den Füßen, die Luft flirrt, es ist Anfang Dezember, die heißeste Zeit in Namibia. Um sicheren Stand zu haben, stelle ich den linken Fuß vor, verlagere das Gewicht auf das rechte Standbein, ziele und drücke ab. Auf dem äußersten der Kreise ist der Einschuss zu sehen. Ich werde noch ziemlich üben müssen...
Ich bin die Älteste. Die Älteste von fünf Geschwistern zu sein heißt immer, zwischen den Stühlen zu sitzen. Zwischen den Stühlen der Eltern und denen der Geschwister. Vier Schwestern sind wir und ein Bruder; Börries, genannt Bolte ist der zweite in der Reihe. Allerdings haben die Geschehnisse der letzten Jahre uns Geschwister mehr und mehr zu einer Einheit zusammengeschweißt. Wenn es ums Überleben geht, herrschen eigene Gesetze, und in einem Land wie Afrika geht es eigentlich fast immer ums Überleben. Dazu kommt unsere ganz spezielle Situation, die mit unserem Vater.
Seit acht Jahren leben wir in Afrika; ich war zehn, als meine Eltern mit uns auswanderten, die jüngste Schwester Karin war gerade ein halbes Jahr alt. Die Erinnerungen an Deutschland verblassen inzwischen langsam, am lebendigsten werden sie an Weihnachten, denn das feiern wir meist an der Küste im Wohnwagen. Dort sitzen wir um den kleinen Tisch und die Kerzen biegen sich in der Hitze - das ist der einzige Moment unterm Jahr, in dem ich Heimweh empfinde: Heimweh nach Schnee und Tannengrün an Weihnachten, nach dieser so anderen stillen Festlichkeit.
Und jetzt stehe ich hier und ziele auf diese runde Scheibe, ziele und schieße. Und ich weiß: entweder der Vater oder wir. Etwas in mir funktioniert ruhig und nüchtern, emotionslos. Das Gefühl der Verantwortung für die Mutter und die Geschwister, das ich schon lange kenne, lässt mich handeln.
Nach einer weiteren zähen halben Stunde lege ich das Tesching aus der Hand, der Schweiß rinnt mir über die Stirn, am Leib und unter den Achseln; ich setze mich auf den Sandboden und lehne den Rücken an die Hausmauer. Sie ist angenehm kühl. Ich schließe die Augen.
...
2010 Lyrik
BOD / Norderstedt
(ISBN 978-3-8423-30801)
auch über mich zu erhalten
BOD / Norderstedt
(ISBN 978-3-8423-30801)
auch über mich zu erhalten
ich singe
weil ich die schwalbe
sah
wie ein weberschiffchen
durch die kettfäden
schoss sie durch die
sonnenbahnen
für kurze momente
ließ ich ihr
meinen faden
wob meine töne
mit in ihr helles lied
*
der herbsttag blättert
gelangweilt
im braunen laub
ein wind trägt dir die töne
des sonntagsvogels zu
du fühlst dich durchsichtig
und wünschst
du könntest komponieren
ein lied aus diesem licht
das statt zu blenden
mild umfängt
das jahr träumt seine letzten
warmen tage
die tonart klingt vertraut
*
der hohe nebel
begräbt den sommer
ich erlaube den bäumen
zu welken
und mir
müde sein dürfen
dürfen
das jahr und ich
weil ich die schwalbe
sah
wie ein weberschiffchen
durch die kettfäden
schoss sie durch die
sonnenbahnen
für kurze momente
ließ ich ihr
meinen faden
wob meine töne
mit in ihr helles lied
*
der herbsttag blättert
gelangweilt
im braunen laub
ein wind trägt dir die töne
des sonntagsvogels zu
du fühlst dich durchsichtig
und wünschst
du könntest komponieren
ein lied aus diesem licht
das statt zu blenden
mild umfängt
das jahr träumt seine letzten
warmen tage
die tonart klingt vertraut
*
der hohe nebel
begräbt den sommer
ich erlaube den bäumen
zu welken
und mir
müde sein dürfen
dürfen
das jahr und ich
am rand der welt sitzt
die füchsin
gleich neben den freiräumen
tränkt auge und ohr
mit den farben den tönen
der erde
singt mit heller gelber stimme
die lieder
die sie daraus webt
singt vom anderen ende
des friedens
*
wie still der see
ein vogelkeil zieht vorbei
während der himmel grünt
und blaut
und dunkel wird
die linie zwischen wasser und oben
jetzt auf der horizontalen stille
vorwärtsschreiten
irgendwann irgendwo
ankommen
den nichtort gibt es
nicht
*
mit der sinkenden dämmerung
bleibt die zeit stehen
durch den türspalt
sickert licht
er kommt herein
zu mir
und ich werde jünger
es riecht nach zitronengras
und freude
später
trägt er mich auf seiner brust
in den schlaf hinein
die füchsin
gleich neben den freiräumen
tränkt auge und ohr
mit den farben den tönen
der erde
singt mit heller gelber stimme
die lieder
die sie daraus webt
singt vom anderen ende
des friedens
*
wie still der see
ein vogelkeil zieht vorbei
während der himmel grünt
und blaut
und dunkel wird
die linie zwischen wasser und oben
jetzt auf der horizontalen stille
vorwärtsschreiten
irgendwann irgendwo
ankommen
den nichtort gibt es
nicht
*
mit der sinkenden dämmerung
bleibt die zeit stehen
durch den türspalt
sickert licht
er kommt herein
zu mir
und ich werde jünger
es riecht nach zitronengras
und freude
später
trägt er mich auf seiner brust
in den schlaf hinein
am morgennächtlichen
fenster stehen
offen
die vögel wissen
um den tag
du glaubst ihnen
suchst deine noten
und setzt deine schritte
auf den frühen ton
*
der regen wäscht
die müdigkeit
aus meinen knochen
wie schön weiß
sie sind
der wind spielt
darauf
ein lied
*
zu den tonwellen
von santana
tanzt du
tanzt dir junges leben
unter deine alte haut
vielleicht
glaubt sie dir irgendwann
du dauergeliebte
und dann
stell sie ab die musik
ertrage diese sonderbare
stille
ertrage dich und
deinen raschen schritt
auf die äußerste grenze zu
wo eine andere welt
beginnt
der du gewachsen sein willst
fenster stehen
offen
die vögel wissen
um den tag
du glaubst ihnen
suchst deine noten
und setzt deine schritte
auf den frühen ton
*
der regen wäscht
die müdigkeit
aus meinen knochen
wie schön weiß
sie sind
der wind spielt
darauf
ein lied
*
zu den tonwellen
von santana
tanzt du
tanzt dir junges leben
unter deine alte haut
vielleicht
glaubt sie dir irgendwann
du dauergeliebte
und dann
stell sie ab die musik
ertrage diese sonderbare
stille
ertrage dich und
deinen raschen schritt
auf die äußerste grenze zu
wo eine andere welt
beginnt
der du gewachsen sein willst
2010 Gedankensplitter
BOD / Norderstedt
(ISBN 978-3-84233-1686)
auch über mich zu erhalten
BOD / Norderstedt
(ISBN 978-3-84233-1686)
auch über mich zu erhalten
"Gedankensplitter / in den Tag gedacht" . . . nennt die Autorin diese sporadischen Tagebuchaufschriebe.
"kämpfen und ringen ist ein himmelweiter unterschied * ich will nicht kämpfen * aber ringen wohl * mit mir selbst, mit meinen gegenübern *
kämpfen tut man gegeneinander, ringen jedoch miteinander! * im kampf greift man zu waffen (pfeil, schwert, pistole...), steht auf abstand, verletzt einander * es geht oft auf leben und tod *
im ringen geht man nah an den anderen heran, ohne waffe * man geht auf körperkontakt, berührung, haut an haut * es ist ein kräftemessen, ein abprüfen * (Jakob rang in der bibel mit seinem engel) * und man erfährt dabei das eigene kraftpotential, ebenso die eigenen grenzen und beschränkungen, es ist ehrlich"
"ich frage mich: in wie weit mache ich mich schuldig an dem wesen eines anderen, wenn ich dinge einfordere, die er gar nicht geben kann? *
oder in wie weit mache ich mich gerade schuldig, wenn ich nicht fordere - und ihn so der möglichkeiten beraube, zu lernen und zu wachsen?"
"ich empfinde den begriff ‚schuld‘ ein wenig anders, als er ‚handelsüblich‘ gebraucht wird * weil er für mich eine aufhebung einerseits von der ‚gängigen schuld-last‘ erfährt durch mein sicheres lebensgefühl: ‚es geschieht nichts, was nicht hätte irgendwie geschehen sollen oder müssen‘ (vom karmischen gesichtspunkt her) *
andererseits macht man sich immer irgendwie ein wenig schuldig, ob man will oder nicht * durch tun oder durch unterlassen * aber das ist für mich dann nicht mit moralisch drohendem ‚schuld-zeigefinger‘ versehen, sondern eher in einem ‚weicheren, geistigeren‘ licht wahrzunehmen *
‚Es ist was es ist, sagt die Liebe‘ (Fried) * auch schuld ... ist was es ist! * wahrgenommen nicht als etwas moralisch be-oder erdrückendes, sondern als ein ‚verantwortliches zu-dem-eigenen-tun-stehen‘, welche auswirkungen auch immer es (gehabt) hat * eine akzeptanz der zusammenhänge, in denen verletzungen passieren, auch wenn man es gar nicht will * manches ist unvermeidlich"
"seine angst zu spüren (und zu formulieren) - und ihr zu gehorchen - das sind zweierlei schuhe *
gefährlich wird es, wenn man sich die angst nicht eingesteht, sondern sie wegleugnet * dann packt sie dich irgendwann unerwartet von hinten und (er-)würgt dich *
sie anzuschauen, zu sehen - und ihr die stirne zu bieten, hindurch zu gehen - darum geht es *
und vor allem sich selbst behutsam zu begreifen: warum habe ich angst? * wovor? * und wer in mir hat angst? *
ja, ich kenne sehr gut die teilpersönlichkeit der ‚verwundeten’ in mir * diese hat sehr wohl das recht, angst zu haben * denn sie hat sehr große verletzungen erlitten * aber da sind doch noch so viele andere teile von mir (die lebenslustige, die vertrauensvolle, die nachdenkliche, die mutige, die ängstliche, die verwegene, die mütterliche, die starke, ...) - und alle diese frauen in mir … die nehmen meine ‚verwundete’ ernst, nehmen sie in den arm - bis ihre angst langsam vergeht, sie sich entspannt *
das ist doch das feine - dass man nie alleine in sich ist!"
"die dinge und geschehnisse, die in unserer biographie ihren platz gehabt haben - die bleiben *
aber es liegt an uns, ihre gestalt zu verändern, sie ‚leichter‘ zu machen, sie ‚künstlerisch zu bearbeiten‘ * der lebens-künstler in uns tut das * er integriert, verwandelt, abstrahiert, patiniert und gibt allem ‚den richtigen platz‘ * manches muss zig mal überarbeitet werden, bis es die für unsere wahrnehmung, unser inneres richtige gestalt hat"
"manchmal sind die tage sehr grün * und das tut gut"
"kämpfen und ringen ist ein himmelweiter unterschied * ich will nicht kämpfen * aber ringen wohl * mit mir selbst, mit meinen gegenübern *
kämpfen tut man gegeneinander, ringen jedoch miteinander! * im kampf greift man zu waffen (pfeil, schwert, pistole...), steht auf abstand, verletzt einander * es geht oft auf leben und tod *
im ringen geht man nah an den anderen heran, ohne waffe * man geht auf körperkontakt, berührung, haut an haut * es ist ein kräftemessen, ein abprüfen * (Jakob rang in der bibel mit seinem engel) * und man erfährt dabei das eigene kraftpotential, ebenso die eigenen grenzen und beschränkungen, es ist ehrlich"
"ich frage mich: in wie weit mache ich mich schuldig an dem wesen eines anderen, wenn ich dinge einfordere, die er gar nicht geben kann? *
oder in wie weit mache ich mich gerade schuldig, wenn ich nicht fordere - und ihn so der möglichkeiten beraube, zu lernen und zu wachsen?"
"ich empfinde den begriff ‚schuld‘ ein wenig anders, als er ‚handelsüblich‘ gebraucht wird * weil er für mich eine aufhebung einerseits von der ‚gängigen schuld-last‘ erfährt durch mein sicheres lebensgefühl: ‚es geschieht nichts, was nicht hätte irgendwie geschehen sollen oder müssen‘ (vom karmischen gesichtspunkt her) *
andererseits macht man sich immer irgendwie ein wenig schuldig, ob man will oder nicht * durch tun oder durch unterlassen * aber das ist für mich dann nicht mit moralisch drohendem ‚schuld-zeigefinger‘ versehen, sondern eher in einem ‚weicheren, geistigeren‘ licht wahrzunehmen *
‚Es ist was es ist, sagt die Liebe‘ (Fried) * auch schuld ... ist was es ist! * wahrgenommen nicht als etwas moralisch be-oder erdrückendes, sondern als ein ‚verantwortliches zu-dem-eigenen-tun-stehen‘, welche auswirkungen auch immer es (gehabt) hat * eine akzeptanz der zusammenhänge, in denen verletzungen passieren, auch wenn man es gar nicht will * manches ist unvermeidlich"
"seine angst zu spüren (und zu formulieren) - und ihr zu gehorchen - das sind zweierlei schuhe *
gefährlich wird es, wenn man sich die angst nicht eingesteht, sondern sie wegleugnet * dann packt sie dich irgendwann unerwartet von hinten und (er-)würgt dich *
sie anzuschauen, zu sehen - und ihr die stirne zu bieten, hindurch zu gehen - darum geht es *
und vor allem sich selbst behutsam zu begreifen: warum habe ich angst? * wovor? * und wer in mir hat angst? *
ja, ich kenne sehr gut die teilpersönlichkeit der ‚verwundeten’ in mir * diese hat sehr wohl das recht, angst zu haben * denn sie hat sehr große verletzungen erlitten * aber da sind doch noch so viele andere teile von mir (die lebenslustige, die vertrauensvolle, die nachdenkliche, die mutige, die ängstliche, die verwegene, die mütterliche, die starke, ...) - und alle diese frauen in mir … die nehmen meine ‚verwundete’ ernst, nehmen sie in den arm - bis ihre angst langsam vergeht, sie sich entspannt *
das ist doch das feine - dass man nie alleine in sich ist!"
"die dinge und geschehnisse, die in unserer biographie ihren platz gehabt haben - die bleiben *
aber es liegt an uns, ihre gestalt zu verändern, sie ‚leichter‘ zu machen, sie ‚künstlerisch zu bearbeiten‘ * der lebens-künstler in uns tut das * er integriert, verwandelt, abstrahiert, patiniert und gibt allem ‚den richtigen platz‘ * manches muss zig mal überarbeitet werden, bis es die für unsere wahrnehmung, unser inneres richtige gestalt hat"
"manchmal sind die tage sehr grün * und das tut gut"
Hier ein paar bisher unveröffentlichte Texte:
besuch am nachmittag
(nach einem besuch bei meiner sterbenden mutter)
sie liegt neben dir auf dem rücken * die haut spannt sich pergamenten und wächsern über ihre züge, feine blaue linien sind darunter sichtbar * die kinnpartie ist im laufe der jahrzehnte kleiner geworden, die lippen schmaler und leicht violett, in den mundwinkeln bündeln sich die falten * die augen hält sie geschlossen *
du hast ihr das feine silberne haar aus der stirn gestrichen, ein film von kühlem schweiß bedeckt ihr gesicht * mit der fingerkuppe fährst du vorsichtig ihre züge nach, so wie sie es seit kindheit bei dir tat * die linie der linken augenbraue, dann die der rechten * die schmale gebogene nase entlang bis zur oberlippe * rechts herum und links herum, bis zum mundwinkel * dann die linie unterhalb des mundes * nun wieder oben auf der mitte der stirn beginnen, über die schläfe, den wangenknochen, am ohr vorbei bis zum kinn hinunter - und ebenso die andere seite * so geht das * schon seit immer *
du fährst mit deinen fingern in ihre lichten haare * kraulst ihr die kopfhaut in leisen, rhythmischen bewegungen * dabei schaust du - so dicht vor deinen augen - deine dunkelhäutigen blaugeäderten hände an * wie sie sich dort im silber bewegen * wie fremde zärtliche tiere, losgelöst von dir * und wissend *
ihre lider flattern ein wenig, sie öffnet die augen halb, war das grün schon immer so blaß? * sie schaut dich mit einem ungefähren blick an als sähe sie durch dich hindurch *
ooh, das tut so gut, sagt sie leise * seufzt tief * die augendeckel flattern wieder zu *
sie atmet mit leichten flügelschlägen * manchmal hörst du ihren atem nicht mehr * siehst ihn auch nicht, ihr brustkorb wölbt sich knöchern still * dann suchen deine augen die stelle über dem schlüsselbein, dort wo früher eine kuhle war, die haut jetzt mit müden falten in den hals übergeht * dort pulst ihr leben noch ganz leise * lange kannst du deinen blick nicht von dieser stelle wenden, während deine wissenden tiere ihr weiter mit langsamen bewegungen auf der kopfhaut gut tun *
irgendwann später massierst du ihr den rücken * dann die schmerzenden schultern und arme * die haut, das fleisch darunter fühlen sich so weich an, dass du denkst, wenn du jetzt zu fest zupacktest, dann löste es sich vom knochen * sie handgriff für handgriff von ihrem müden leib freimassieren *
die schmalen hände sind mit dunklen flecken übersät * steif sind die knorrigen gelenke geworden, sie kann die hand nicht mehr zur faust ballen *
eigentlich konnte sie das noch nie * auch nicht, als die gelenke noch geschmeidig waren *
du tust mir so gut, flüstert sie wieder * und du weißt, dass du nur die vielen erinnerungen in deinem leib abfragen musst, die ihre hände im laufe der jahrzehnte dort hinterließen - und dann ist das alles ganz leicht *
(nach einem besuch bei meiner sterbenden mutter)
sie liegt neben dir auf dem rücken * die haut spannt sich pergamenten und wächsern über ihre züge, feine blaue linien sind darunter sichtbar * die kinnpartie ist im laufe der jahrzehnte kleiner geworden, die lippen schmaler und leicht violett, in den mundwinkeln bündeln sich die falten * die augen hält sie geschlossen *
du hast ihr das feine silberne haar aus der stirn gestrichen, ein film von kühlem schweiß bedeckt ihr gesicht * mit der fingerkuppe fährst du vorsichtig ihre züge nach, so wie sie es seit kindheit bei dir tat * die linie der linken augenbraue, dann die der rechten * die schmale gebogene nase entlang bis zur oberlippe * rechts herum und links herum, bis zum mundwinkel * dann die linie unterhalb des mundes * nun wieder oben auf der mitte der stirn beginnen, über die schläfe, den wangenknochen, am ohr vorbei bis zum kinn hinunter - und ebenso die andere seite * so geht das * schon seit immer *
du fährst mit deinen fingern in ihre lichten haare * kraulst ihr die kopfhaut in leisen, rhythmischen bewegungen * dabei schaust du - so dicht vor deinen augen - deine dunkelhäutigen blaugeäderten hände an * wie sie sich dort im silber bewegen * wie fremde zärtliche tiere, losgelöst von dir * und wissend *
ihre lider flattern ein wenig, sie öffnet die augen halb, war das grün schon immer so blaß? * sie schaut dich mit einem ungefähren blick an als sähe sie durch dich hindurch *
ooh, das tut so gut, sagt sie leise * seufzt tief * die augendeckel flattern wieder zu *
sie atmet mit leichten flügelschlägen * manchmal hörst du ihren atem nicht mehr * siehst ihn auch nicht, ihr brustkorb wölbt sich knöchern still * dann suchen deine augen die stelle über dem schlüsselbein, dort wo früher eine kuhle war, die haut jetzt mit müden falten in den hals übergeht * dort pulst ihr leben noch ganz leise * lange kannst du deinen blick nicht von dieser stelle wenden, während deine wissenden tiere ihr weiter mit langsamen bewegungen auf der kopfhaut gut tun *
irgendwann später massierst du ihr den rücken * dann die schmerzenden schultern und arme * die haut, das fleisch darunter fühlen sich so weich an, dass du denkst, wenn du jetzt zu fest zupacktest, dann löste es sich vom knochen * sie handgriff für handgriff von ihrem müden leib freimassieren *
die schmalen hände sind mit dunklen flecken übersät * steif sind die knorrigen gelenke geworden, sie kann die hand nicht mehr zur faust ballen *
eigentlich konnte sie das noch nie * auch nicht, als die gelenke noch geschmeidig waren *
du tust mir so gut, flüstert sie wieder * und du weißt, dass du nur die vielen erinnerungen in deinem leib abfragen musst, die ihre hände im laufe der jahrzehnte dort hinterließen - und dann ist das alles ganz leicht *
Neue Gedichte nach langer Schreib - Pause
ein schatten senkt sich
auf deinen leib
du bekommst eine
ahnung
von finsternis
du umarmst ihn
singst ihn hell
mit deinem begreifen
mit tiefem verstehen
spürst dankbarkeit
für den flügelschlag
spürst den gott in dir
du
hältst die zügel
änderst die richtung
um weniges nur
aber
wesentlich
. . . und meiner Darmkrebs-OP . . .
deinem versehrten leib
deinem suchenden verstehen
ist eine auszeit gewährt
schonzeit schutzraum
fürs neue werden
du wiegst dich sanft
in der alleinseifreude
die jahre versinken
in der vergangenheit
und die neue wirklichkeit
gerät ins tanzen
weil die hüterin der
worte
wieder erwacht
in der Reha . . . Oktober 2017
der dunkle engel hat dich
gestreift
jetzt atmest du tief
in deiner bemessenen auszeit
siehst auf den hügeln
vor deinem fenster
die frühherbstsonne wandern
und spürst sie in dir
wandern
spürst
deine form ist
geblieben
aber dein sein
hat sich
verändert
Veröffentlichungen in Anthologien (u.a.):
"Alles ist Übergang" (Klöpfer & Mayer) / "Du rollst den Stein von unseren Herzen" (Gütersloher Verlagshaus) /
"Erotikon", (Edition Schnittpunkte) / "Rot trifft Blau" (Ferber Verlag) / "Siebzehn Silben" (Athena Verlag) /
"Wurzeln und Flügel" (Kasper-Merbach- Verlag) / "Ich gebe meiner Trauer Atem" Kasper-Merbach-Verlag) /
"Mausklick" (Signatur e.V.) / "Leichter im Text" (Zytglogge Verlag Bern)
Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wie z.B.:
"Neue Sirene" / "Harass" / "Dulzinea" / "Jahrbuch für das neue Gedicht" / oder bei "www.lesefutter.org"